Billionen von Mitbewohner: das Mikrobiom im Darm

10.02.2017

15. Gastroenterologieseminar stieß auf große Resonanz
In unserem Verdauungstrakt leben Milliarden kleinster Mikroorganismen, ohne die wir Menschen nicht lebensfähig wären – das sogenannte Mikrobiom. Es hilft uns nicht nur beim Verdauen, sondern bildet auch eine Vielzahl wichtiger Botenstoffe. Diese entscheiden darüber mit, ob wir zu dick werden oder Diabetes bekommen, wie viel wir von einem Medikament brauchen, oder sogar, wie viele Botenstoffe unser Gehirn abbekommt. Kurzum: Das Mikrobiom ist maßgeblich für unsere Gesundheit verantwortlich. Kaum ein Forschungsgebiet hat sich in den letzten Jahren so rasant entwickelt und dürfte so gravierende Implikationen für die Medizin gewinnen wie das Mikrobiom. Diese hochaktuelle Thematik stand im Mittelpunkt des 15. Gastroenterologieseminars, zu dem Chefarzt Prof. Dr. Siegfried Wagner vom DONAUISAR Klinikum und der Ärztliche Kreisverband Deggendorf eingeladen hatten.

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. André Gessner, Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Hygiene in Re-gensburg, einer der international führenden Experten auf dem Gebiet der Mikrobiomforschung, referierte vor hundert Medizinern aus ganz Ostbayern. Unvorstellbare 90 Prozent aller Zellen in uns sind Bakterien. Sie bilden, zusammen mit anderen Mikroorganismen, das Mikrobiom: Einen Superorganismus, der unser Überleben sichert – und der stark von unserem Lebensstil abhängt. „Mikroskopisch betrachtet sind wir Menschen also eher eine Ansammlung an kleinsten Organismen als ein Haufen menschlicher Zellen. Das ist ein komisches Gebilde", erklärte Prof. Gessner. Warum wir trotzdem wie ein Mensch aussehen? Ganz einfach: Weil unsere körpereigenen Zellen viel größer sind als ein Bakterium. Das Darm-Mikrobiom bringt aber immerhin rund 1,5 Kilo auf die Waage – pro Mensch. In einem Milliliter Darminhalt befinden sich rund eine Billion Bakterien!

Viele der Mikroorganismen sind noch nicht identifiziert, Forscher gehen aber davon aus, dass es weit mehr als 1.000 oder sogar um die 10.000 verschiedene sind, die auf und in uns leben. Und: dass sie sich in ihrer Zusammensetzung in jedem von uns unterscheiden. Jeder Mensch hat sozusagen seinen eigenen Darmflora-Fingerabdruck – auch wenn es natürlich Mikroorganismen gibt, die in jedem von uns vorhanden sind – E.coli-Bakterien zum Beispiel. Besonders viele Mikroorganismen leben im unteren Dünn- und im Dickdarm – das zeigt sich auch beim Stuhlgang, der zu rund einem Drittel aus Bakterien besteht. Weit weniger Kleinstlebewesen sind es im Magen und im oberen Dünndarm, weil hier die Magensäure so gut wie alle Keime abtötet, die mit der Nahrung in den Körper gelangen. Nur der bekannte Magenkeim Helicobacter pylori hat sich an das saure Magenmilieu angepasst und lebt allein auf weiter Flur in den Zotten der Magenschleimhaut.

Unser Mikrobiom entwickelt sich bereits in den ersten Lebenstagen. Entscheidend dabei ist der Geburts-vorgang, bei dem das Neugeborene mit der Vaginalschleimhaut der Mutter in Kontakt kommt und die ersten Bakterien aufnimmt. Später sind es dann verschiedene andere Quellen aus der Umwelt, in denen die Mikroorganismen für unsere Darmflora stecken – in erster Linie die Nahrung. Unser Lebensstil ist also entscheidend dafür, wie sich das Mikrobiom im Laufe des Lebens verändert.

Schon jetzt wird angenommen, dass das Mikrobiom im menschlichen Verdauungstrakt für eine Vielzahl von Erkrankungen relevant ist. Diese reichen von Typ-I-Diabetes über Depression und Angststörung bis hin zu Übergewicht und Autoimmunerkrankungen oder entzündlichen Darmerkrankungen. Depressive Patienten weisen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikante Änderungen der Darmmikrobiom-Komposition auf. Interessanterweise ließen sich depressive Verhaltensweisen durch Darmbakterien von Patienten, nicht aber von gesunden Kontrollpersonen, auf keimfreie Mäuse übertragen.

Zahlreiche, häufig unerwartete Befunde legen Zusammenhänge zwischen verschiedensten Erkrankun-gen des Menschen und seiner Mikrobiota nahe. Dies ist weltweit Motivation für die Entwicklung neuer Therapien zur gezielten Veränderungen des Mikrobioms. Mögliche Ansatzpunkte sind: Wirkstoffe, die die Darmbakterien in Vermehrung oder Aktivität beeinflussen (Präbiotika), Behandlung mit gezielt ausgewählten, lebenden Bakterien (Probiotika) und Fäkal- oder Mikrobiotatransfer (Stuhltransplantation) von gesunden Spendern.

Die Mikrobiomforschung steht noch am Anfang. Detailzusammenhänge mit Erkrankungen sind oft un-klar, die intestinalen Mikroorganismen sind zum größten Teil bis heute nicht anzüchtbar und es steht noch keine ausreichend standardisierte Routinediagnostik zur Verfügung. Dennoch: „Mikrobiomdiagnostik und -therapie sind hochattraktive relevante Bausteine der Personalisierten Medizin des 21. Jahrhunderts“, so der Ausblick von Prof. Gessner.

Referenten
Sprachen angeregt über den Darm: Prof. Dr. Siegfried Wagner (v.l.), Prof. Dr. Dr. Andre Gessner, Privatdozent Dr. Martin Caselitz